Die Geisterweberinnen

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Man sagt, Freundschaft webt die stärksten Bande. Doch wenn ein Faden reisst, kann das gesamte Gewebe auseinanderfallen und nur verhedderte Fasern und unbeantwortete Fragen hinterlassen. Ich habe mich oft gefragt, wie etwas so Starkes wie Vertrauen so leicht zerreissen kann—wie ein Band, das über Jahre hinweg durch Lachen und Liebe geknüpft wurde, in einem einzigen Moment zerfallen kann. Haben wir es kommen sehen? Oder hat es uns überrascht, weil wir zu sehr an die Stärke des Gewebes geglaubt haben?

Vor fünf Jahren haben drei Frauen—Thalia, Liora und ich—einen Kreis gebildet, vereint nicht nur durch langjährige Freundschaft, sondern auch durch unsere gemeinsame Faszination für schamanische Heilung. Wir nannten uns „Die Geisterweberinnen“.

Thalia, eine Kräuterkundige, hatte eine tiefe Verbindung zur Natur. Ihre Heilmittel spiegelten die Kunst des Webens wider: Wurzeln, Blätter und Blumen, die zu Harmonie verschmelzen. Sie hatte die Idee, unserer Gruppe diesen Namen zu geben, inspiriert von der Vorstellung, wie wir „Fäden der Weisheit und des Geistes weben.“ Sie scherzte oft, dass sie, wenn Pflanzen Persönlichkeiten hätten, als Schiedsrichterin arbeiten würde, um die Streitigkeiten zwischen Brennnesseln und Rosen zu klären.

Liora, eine Lebensberaterin, bereicherte unsere Zusammenkünfte mit Einsichten über Transformation und Verbundenheit. Sie schrieb sogar unser Motto:

„Geknüpft durch die Fäden des Schicksals, weben wir Licht durch Schatten und Harmonie in die Wildnis.“

Und dann war da noch ich, Arthelia—Texterin am Tag, Dichterin bei Nacht. Mein Beitrag zur Gruppe war es, unsere Ideen in Reime zu verwandeln:

Durch dunklen Wald und sternenklare Nacht,

weben wir die Fäden, wo der Geist erwacht.

In Harmonie vereinen sich unsere Herzen,

drei Seelen, die im Göttlichen glühen und scherzen.

Unsere Treffen begannen als unbeschwerte Zusammenkünfte—mal bei einem Abendessen mit Wein am Freitag, mal bei Tee und Keksen am Sonntagnachmittag. Wir diskutierten über Symbole, Geister und die unsichtbare Welt. Doch bald wurden unsere Gespräche ernster. Wir wollten die Heilung, über die wir sprachen, auch erleben. Und so faszinierte uns Ayahuasca zunehmend wie ein flackerndes Licht, das Motten in seinen Bann zieht.

Anfangs war es aufregend. Wir verschlangen Artikel, Dokumentationen und Foren. Jede Geschichte über Transformation war faszinierender als die letzte. Eine Reise nach Südamerika schien wie ein ferner Traum. Doch dann erzählte Lioras Freundin von einem Kontakt: Ein Schamane, der Zeremonien auf einem Bauernhof in der Nähe des Vierwaldstättersees abhielt.

Thalia war die Erste, die Zweifel äusserte, als wir uns auf unsere erste Zeremonie vorbereiteten.

„Habt ihr die Artikel gelesen?“ fragte sie eines Abends und zog ihre Stirn in die typische Denkfalte. „Manche Menschen tragen lebenslange psychologische Schäden davon. Und es gibt auch Todesfälle. Wirkliche Todesfälle.“

„Todesfälle?“ fragte Liora mit grossen Augen.

„Ja. TODESFÄLLE,“ wiederholte Thalia, ihre Stimme scharf.

Sie sah mich nicht an, als sie das sagte, aber die Herausforderung lag unausgesprochen im Raum. Ich versuchte, sie mit Humor zu beruhigen. „Ach komm, Thalia. Das sind doch absolute Ausnahmen,“ sagte ich und winkte ab. „Die meisten Menschen machen transformative, lebensverändernde Erfahrungen. So eine, bei der sie kosmische Wahrheiten oder Pflanzen treffen. Ich meine, wer würde nicht gerne von einem frechen Farn belehrt werden?“

Thalia war nicht amüsiert. Später, während wir das Abendessen abräumten, fragte sie Liora fast beiläufig: „Was macht der Schamane eigentlich… genau? Führt er euch? Oder sitzt er einfach nur da, während ihr halluziniert?“

Liora zuckte mit den Schultern. „Er ist da, um zu helfen, falls es schwierig wird. Ich habe gehört, dass sie singen oder Musik spielen. Das soll ein Gefühl von Geborgenheit geben.“

„Geborgenheit,“ wiederholte sie, ihre Stimme klang abwesend. „Hm.“ Sie sagte nichts mehr, aber ich bemerkte, wie ihre Hände zu lange auf dem Weinglas verweilten, ihre Finger fest um den Stiel geklammert. Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob Thalias Zweifel nicht nur den Schamanen betrafen.

Ihre Skepsis blieb bestehen und führte schliesslich zu einer stillen Entscheidung: Sie würde nicht mit uns gehen.

Die Vorbereitungswoche war brutal—kein Zucker, kein Salz, kein Koffein, kein Fleisch, keine Milchprodukte, keine Öle, keine Gewürze. Nach dem dritten Tag hätte ich meine Seele für ein Croissant verkauft. Liora hingegen schien in der Askese aufzugehen, summte Melodien und trank ihre fade Haferflockenbrühe, als wäre es ein Festmahl. Bis zum fünften Tag war ich überzeugt, dass sie mich damit ärgern wollte.

Der Veranstaltungsort war surreal: ein jahrhundertealtes Bauernhaus am Fusse der Rigi, mit Blick auf den Vierwaldstättersee. Der Schamane empfing uns mit einer gelassenen Selbstsicherheit, sein langes Haar war zurückgebunden, und seine Augen funkelten, als hätte er schon zu viel vom Universum gesehen, um noch überrascht zu sein. Er sprach leise, seine Worte klangen routiniert, als hätte er sie schon hundertmal gesagt. Es war, als hätte er diese Rede an unzählige Suchenden vor uns gehalten.

Ich fragte mich, was die indigenen Schamanen des Amazonas von all dem halten würden—Ayahuasca-Zeremonien, die von Regenwäldern in ein Schweizer Bauernhaus verlegt wurden, für Menschen in Yogahosen und Mammut-Jacken. War es noch Heilung, oder war es etwas ganz anderes geworden? Eine fertige Erfahrung, vermarktet für die Rastlosen und Überarbeiteten, die Erleuchtung für den Preis eines Wochenend-Retreats und einer strengen Diät suchten?

Die Zeremonie selbst lief nicht wie geplant—zumindest nicht für mich. Liora hingegen hatte eine fast schon klischeehafte „andere Welt“-Erfahrung. Sie strahlte am nächsten Morgen, als sie von sprechenden Ranken, Regenbogen-Auren und kosmischen Wahrheiten erzählte, die ihr ein weiser alter Jaguar offenbarte. „Es war, als könnte ich die Fäden des Universums sehen,“ sagte sie mit Ehrfurcht in der Stimme. „Alles ist verbunden.“

Ich beneidete sie, nicht nur wegen der Erfahrung, sondern auch wegen der Leichtigkeit, mit der sie immer Klarheit fand. Während sie mit dem Kosmos kommunizierte, verbrachte ich die Nacht im Kampf gegen Übelkeit und kaleidoskopische Visionen, die sich weniger „heilig“ und mehr wie die schlimmste Reisekrankheit meines Lebens anfühlten. Ich klammerte mich an die hölzerne Toilettenbrille und flüsterte: „Das geht vorbei,“ ging es aber meistens nicht.

Am darauffolgenden Freitag trafen wir uns in Lioras Wohnung, um die Erfahrung zu „feiern.“ Thalia war ungewöhnlich aufgeregt, stellte unzählige Fragen. „Wie hat es sich angefühlt? Was habt ihr gesehen? Fühlt ihr euch verwandelt?“ Ihre gewohnte Skepsis war einer fast obsessiven Neugier gewichen. Ich hielt es für eine bedauernde Neugier. Doch zwei Wochen später liess sie die Bombe platzen.

Nach dem üblichen Gespräch, als wir unseren Tee ausgetrunken hatten, stellte Thalia ihre Tasse vorsichtig ab—zu vorsichtig—und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie sah uns nicht an, als sie sprach.

„Ich war letzte Woche bei der Zeremonie,“ sagte sie, ihr Ton absichtlich beiläufig.

Liora und ich erstarrten. „Du warst was?“ fragte Liora, ihre Stimme angespannt. „Warum bist du nicht mit uns gegangen?“

Thalia zuckte mit den Schultern, aber ihre Augen wanderten zum Fenster. „Ich wollte sicher sein, dass es sicher ist,“ antwortete sie mit einem knappen Lächeln.

Die Worte trafen mich wie ein kalter Wind. Ich erstarrte, die Porzellankante meiner Tasse drückte sich gegen meine Lippen. Einen Moment lang dachte ich, ich hätte mich verhört. Ich starrte sie an und versuchte, die Bedeutung ihrer Worte zu begreifen. Liora rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, ihr eigenes Lächeln verblasste. „Sicher?“

„Ich musste sicherstellen, dass nichts schiefgeht,“ erwiderte Thalia mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fassungslos machte.

Die Geisterweberinnen überlebten diesen Abend nicht. Unser schamanisches Band, einst ein Gewebe aus Vertrauen und Kameradschaft, zerfiel. Liora und ich setzten unsere Erkundungen mit anderen Schamanen fort. Thalia hingegen wurde ironischerweise zur glühenden Anhängerin des Schamanen, an dem sie zuvor gezweifelt hatte, und nahm zwei Jahre lang obsessiv an seinen Zeremonien teil, bis sie sich wegen einer unbezahlten Sitzung zerstritten.

Letztes Jahr sahen wir uns auf dem Geburtstag einer gemeinsamen Freundin wieder. Thalia fragte mich, warum ich damals so verärgert gewesen sei.

„Freunde verlassen sich nicht aus Angst,“ sagte ich leise. „Wahre Freundschaft bedeutet, Risiken gemeinsam einzugehen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich war ehrlich.“

Ehrlichkeit. Diese noble Tugend. Doch in diesem Moment fühlte sie sich hohl an—wie ein brüchiges Schild gegen den stechenden Schmerz der Enttäuschung. Freundschaft, so wurde mir klar, verlangt mehr als Ehrlichkeit. Sie verlangt Mut.

Vor ein paar Wochen fand ich das Armband, das wir gemacht hatten—ein Band aus grünen, goldenen und roten Fäden. Es war an den Rändern ausgefranst, aber ich konnte es nicht wegwerfen. Die stärksten Fäden, so habe ich gelernt, sind nicht die, die niemals reissen. Es sind die, die wieder zusammengebunden werden, selbst nachdem das Gewebe auseinandergefallen ist.


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