Isla am Tor

 

Das Mondlicht fiel durch die Fenster des dunklen Raums wie ein wissendes Lächeln. Es war gerade genug Licht, um die Schatten zu erahnen: Menschen, die sich leise bewegten, eine Hand, die Tränen wegwischte, jemand nach vorne gebeugt, mitten in einer Offenbarung gefangen. Wir waren etwa zwanzig, sassen auf Matten, in Decken gehüllt, wartend auf das, was die Nacht—und die Ayahuasca—bereithalten würde.

In diesem Geflecht der Stille wurde meiner Freundin Isla eine Aufgabe von grosser Bedeutung zugeteilt: das Tor bewachen.

Nun, „das Tor bewachen“ in einer Ayahuasca-Zeremonie hat nichts mit Schlössern oder Schlüsseln zu tun. Es bedeutet einfach, darauf zu achten, wer hinaus zur Toilette geht und sicherzustellen, dass sie auch zurückkommen. Klingt leicht, oder? Ausser, natürlich, man ist selbst auf Ayahuasca. Und es war Isla, die diese ehrenvolle, aber… sagen wir mal, herausfordernde Aufgabe erhielt. Ein bisschen wie jemanden zu bitten, mit verbundenen Augen einen Wasserfall zu fotografieren.

Der Schamane, ein Mann weniger Worte und vieler Geheimnisse, übertrug Isla diese Aufgabe mit einem wissenden Nicken. Ich schwöre, ich sah ein kleines Funkeln in seinen Augen, als ob er genau wusste, wie das ausgehen würde.

„Isla, heute Nacht wirst du das Tor bewachen.“

Ihre Augen weiteten sich mit feierlichem Ernst. Isla, die im Alltag so effizient und souverän war, nahm diese Rolle an, als wäre sie zur Königin der Nacht gekrönt worden. Und ich? Ich glaubte an sie. Na ja, zumindest für diesen kurzen Moment.

Doch die „normale“ Welt hatte den Raum schon längst verlassen.

Die Stimme des Schamanen durchbrach die Stille: „Der erste Becher ist bereit. Bitte vortreten.“

Wir gingen einzeln nach vorne, manche ehrfürchtig, andere zögerlich, wieder andere sahen bereits ein wenig verloren aus. Isla stand mit Selbstbewusstsein auf, ging zum Schamanen, nahm ihren Becher mit gesenktem Kopf entgegen und kehrte zu ihrer Matte zurück. Sie war, vorerst, aufrecht und funktional.

Die Medizin wirkt auf jeden anders. Für mich begann es mit sanften Wellen—die Ränder verschwammen, Farben schienen sich zu verändern. Aber Isla? Isla begann förmlich zu zerfallen.

Ein Moment brachte ein volles, bauchiges, Tränen treibendes Lachen hervor, als hätte ihr jemand den groessten Witz des Universums erzählt. Im nächsten Moment kam ein tiefes, herzzerreissendes Schluchzen. Es war, als hätte sie eine direkte Leitung zu jeder Emotion gefunden, die je existierte. Sie war eine menschliche Achterbahn der Entdeckung.

„Zweite Runde. Wer nochmals trinken möchte, bitte vortreten,“ rief der Schamane.

Der Raum war schwerer geworden. Die Energie hatte sich verändert—die Medizin hatte tief Wurzeln geschlagen. Ich blickte zu Isla, die versuchte aufzustehen, als ob sie sich noch in einem normalen Raum befände. Doch die Schwerkraft—oder vielleicht die Ayahuasca—hatte andere Pläne. Langsam sank sie auf ihre Hände und Knie. „In Ordnung,“ dachte ich. „Kriechen zählt auch.““

Mit einer Beharrlichkeit, die fast rührend war, kroch Isla nach vorne. Ihre Haare hingen ihr ins Gesicht, und sie bewegte sich wie jemand, der entweder etwas Wichtiges sucht oder jeden Moment aufgeben könnte. Hätte man das heilige Setting ignoriert, hätte man meinen können, sie suche ihre verlorenen Schlüssel.

Der Schamane sah sie an und lächelte leicht.

„Gut,“ murmelte er, als wäre ihr Kriechen eine erwartete Leistung.

Auf dem Rückweg bot der Schamane Rapé an—die heilige Tabakmischung, die den Geist klärt.

„Wer Klarheit möchte, bitte vortreten,“ sagte er.

Von ihrer Matte aus schnellte Islas Hand nach oben wie die einer eifrigen Schülerin.

„Oh nein,“ dachte ich.

Und schon kroch Isla zurück zum Schamanen. Er blies ihr Rapé in die Nasenlöcher. Die Reaktion war unmittelbar: Isla nieste so heftig, dass ich halb erwartete, ihre Seele würde gleich aus ihrer Nase schiessen.

Dann blieb sie regungslos auf allen Vieren. Ein Fels im Fluss.

Nach dieser zweiten Runde, als die Medizin tiefer in ihren Körper und Geist vorgedrungen war, kroch Isla auf allen Vieren zurück zu ihrer Matte. Menschen kamen und gingen zur Toilette, aber Isla bemerkte es nicht. Ihre Gedanken waren zu weit weg, ihr Fokus voll und ganz auf das, was in ihrem Inneren geschah. Der Schamane bemerkte das natürlich. Er bemerkte immer alles. Er drehte sich zu mir und nickte amüsiert.

„Du bewachst jetzt das Tor,“ sagte er.

Ich seufzte und nahm meine neue Rolle an wie ein widerwilliger Soldat. Isla lachte, weinte und zerfiel in ihrer Ecke weiter, ohne zu merken, dass sie soeben degradiert worden war.

Bei der dritten Runde war der Raum tief in der Zeremonie versunken. Der Gesang des Schamanen verschmolz mit Atmen, Seufzen und flüsternden Stimmen. Die meisten Leute bewegten sich nicht mehr. Ich dachte, Isla hätte aufgegeben.

Doch als der Schamane rief: „Dritter Becher. Bitte vortreten,“ begann Isla sich zu bewegen.

Langsam. Ihre Arme streckten sich nach vorne. Ihr Körper folgte—nicht kriechend, sondern schlängelnd. Ihre Hüften schwangen. Ihre Wirbelsäule wellte sich. Sie bewegte sich nicht mehr wie ein Mensch.

Sie kroch wie eine Schlange—langsam, geschmeidig, und doch mit einer Anmut, die gleichzeitig hypnotisch und unfreiwillig komisch war. Es war schwer zu sagen, ob sie sich vollkommen der Medizin hingegeben hatte oder einfach dem Boden verbunden fühlte.

Der Schamane sah sie an, ein Lächeln auf den Lippen.

„Die Schlange kennt ihren Weg,“ sagte er leise.

Ich wusste nicht, was er meinte, aber es klang wichtig.

Als die ersten Sonnenstrahlen in den Raum fielen, trat der Schamane zu Isla.

„Gute Arbeit heute Nacht,“ sagte er.

Isla nickte langsam, die Augen noch halb in einer anderen Welt.

Und ich? Ich sass dort, grinsend. Denn manchmal sind es die, die das Tor nicht bewachen, die am weitesten hindurchreisen.

Würde ich Isla je erzählen, wie sie aussah, wie sie unter dem Mondlicht über den Boden glitt wie ein verspielter Flussotter? Niemals.

Einige Dinge gehören einfach dem Mondlicht. Und Isla, so sehr sie das Tor auch nicht bewachte, gehörte an diesem Abend eindeutig dazu.


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